Das heimliche Wahrzeichen Offenbachs ist eine unscheinbare Skulptur neben dem Rathaus. Sie ist nicht als Kunstwerk ausgezeichnet, sie wird in keiner Publikation als Kunstwerk erwähnt, auch weiß man nicht von welchem Künstler sie stammt. Der belgische Konzeptkünstler Guillaume Bijl (u.a. documenta IX) könnte der Urheber sein, er ist bekannt für heimlich im öffentlichen Raum platzierte Aktionskunst, die erst durch aufmerksame Betrachter als Kunst entdeckt werden will – feinsinnige und verstörende Kunstwerke, deren Sinn sich erst erschließt, wenn man ihren immanenten Unsinn hinterfragt.
Die Skulptur tarnt sich als Hinweissäule für die Haltestelle Marktplatz der S-Bahn: drei Kuben untereinander, montiert auf einer Stahlsäule mit quadratischem Querschnitt. Der obere Kubus ist mit dem Logo der Deutschen Bahn beschriftet, der mittlere mit dem S-Bahn-Symbol, und der untere Würfel ist weiß. Die Gesamthöhe beträgt ca. 5,50 m, die Kantenlänge der Kuben 60 cm.
Hunderte von Passanten täglich nehmen dieses getarnte Kunstwerk als solches nicht wahr. Schließlich ist der einzige Hinweis, den der Künstler uns gibt, der scheinbar völlig funktionslose weiße Würfel, der hinterfragt werden könnte.
Erst bei Nacht (und auch dann längst nicht so augenfällig wie das nachfolgende Foto suggeriert) offenbart sich der Schlüssel zum Zugang dieses Meisterwerks subtiler Konzeptkunst:
Bei Dunkelheit entpuppt sich der weiße Kubus als beleuchtete Uhr, die vor etwa 5 Jahren (Sic!) mit schwach durchscheinenden weißen Kunststoffplatten verschalt wurde. Die Uhr funktioniert zwar, aber alle vier Uhrwerke zeigen eine falsche Uhrzeit an.
Nun plötzlich suggeriert uns das Kunstwerk eine Entstehungsgeschichte als Folge von brutalstmöglichem Dilettantismus und zynischem Umgang mit unseren Energiereserven, als hätte die Deutsche Bahn einfach eine beleuchtete Uhr zugenagelt, anstatt sie zu reparieren, und sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, zuvor den Strom abzuschalten. Eine laute Anklage gegen Unachtsamkeit und Lieblosigkeit? Gegen Energieverschwendung? Oder – sehr konkret – gegen die Deutsche Bahn und ihre Neigung, Konstruktionsfehler hinter blendenden Fassaden zu verstecken, anstatt sie zu beheben?
Aber vielleicht will uns der Künstler mit solchen nahe liegenden, banalen Assoziationen nur aufs Glatteis führen und von einer abstrakteren Deutung ablenken – zum Beispiel, dass unsere Welt, die zunehmend aus Symbolen, Marken und spiegelglatten Marketing-Fassaden besteht, unser Zeitgefühl zerbrechen lässt, uns das Gefühl für die materielle Wirklichkeit – hier symbolisiert durch die Unerbittlichkeit der Zeit – verloren geht. Oder so.